Interview mit Anett Quint, Leiterin Justus-Delbrück-Hauses, Akademie für Mitbestimmung, Bahnhof Jamlitz

 

MOMO MEDIA: Ein Teil der Akademie für Mitbestimmung nennt sich „Landeinwärts“? Was verbirgt sich dahinter?

Anett Quint: „Landeinwärts“ ist eine kleine Jugend-WG mit großer Wirkung. Wir arbeiten nach dem Housing first-Ansatz. Sofortige Aufnahme, keine Bedingungen für Jugendliche, die sich in ihrer Not an uns wenden, um hier zu wohnen.

 

MOMO MEDIA: Das ist aber eine knappe Beschreibung.

Anett Quint: Von meinem Gefühl her ist es eine Wohngemeinschaft. Mir gefällt daran dieser Blickwinkel, dass die Jugendlichen hier nicht stigmatisiert werden, nach dem Motto: Das sind unsere Klienten, Patienten oder Delinquenten. Sondern es sind einfach Jugendliche, die in einer WG leben und sich berappeln müssen mit allen Schwierigkeiten. Natürlich sind sie alle in einem bestimmten Sinn auch sozial und organisatorisch orientierungslos. Einige sind traumatisiert und bringen eine Menge Pakete mit, die sie hier, wenn sie sich dafür entscheiden, aufschnüren können. Entschleunigung, Druck herausnehmen, ausschlafen dürfen, durchatmen, in der Natur und in einer dörflichen Gemeinschaft leben. Die Jugendlichen haben bei uns sehr viel Eigenverantwortung. Das macht uns aus.

 

MOMO MEDIA: Wohnen ohne Bedingungen, erst mal nur ein Dach über dem Kopf haben...?

Anett Quint: Ja. Die permanente Angst baut sich ab. In den Notschlafstellen z.B., aus denen so manche „Landeinwärtsler“ kommen, hält dich die ganze Zeit in einen akuten Dauerstress. Immer die Sorge um einen sicheren Schlafplatz, ums Essen... Wir sind hier drei Leute mit zwei Vollzeit-Pädagogen-Stellen und teilen uns die. Wir bieten viel Begleitung an, gehen mit ihnen zu Ärzten, teilen unsere Sorgen und allmählich wird der „Tag wieder heller“. Das braucht Zeit. Hier ist ihnen ihr Platz sicher. Wir versuchen, gemeinsam einen Ausweg zu finden für alles. Das ist natürlich hartes Brot. Für die Jugendlichen und auch für uns.

 

MOMO MEDIA: Gibt es denn echte Erfolgsgeschichten?

Anett Quint: Ja, viele! Ich habe vor kurzem eine E-Mail bekommen von einem jungen Mann, der bei uns ganz am Anfang da war. Da gab es nur die Bildungsstätte und dann immer mehr Jugendliche, die gefragt haben, könnte ich nicht bleiben? Ich musste dann sagen, eigentlich geht das nicht, aber ich guck mal, ich finde ’ne Lösung, ein Zimmerchen, irgendeine Ecke für Dich. Der Junge hat damals Fachabitur gemacht und war auch in der Lage, praktisch zu arbeiten. Er war ein halbes Jahr bei uns. Da habe ich gelernt, was Traumatisierung ist, was Beziehungsarbeit bedeutet, was Nach-Be-Elterung und Nachreife bedeuten und diese ganzen Sachen.

 

MOMO MEDIA: Wie ging’s dann weiter?

Anett Quint: Dann war irgendwann der Kontakt weg. Er meldete sich jetzt bei mir mit der Bitte, ob wir den Film über Florian und Jakob Richter, Überlebende aus dem Konzentrationslager hier in Jamlitz, den wir hier präsentieren ( ), auch bei ihm an der Hochschule in Stendal in seinem Filmklub zeigen könnten. Er studiere dort Reha-Psychologie, und er würde uns mit seinem Auto vom Bahnhof abholen und unsere Übernachtung organisieren. Da habe ich gedacht: Toll!

 

Erst ist mir ein Stein vom Herzen gefallen, weil es ihm gut geht. Und dann kam: Guck an, er studiert Psychologie! Das war sein Traum. Das geht runter wie Öl. Das ist so schön, das sind Sternstunden! Gerade wenn die Jugendlichen anfangen, über ihr Trauma zu sprechen, dann ist von ganz viel Leid die Rede. Das hatte auch dieser junge Mann erlebt.

 

MOMO MEDIA: Das fühlt sich wirklich sehr gut an!

Anett Quint: Man kann immer noch mal darüber diskutieren, ob diese Rückkehr ins System und ins Bürgerliche für alle Jugendlichen so das Ziel ist, wo sie doch von diesem System so stark betrogen worden sind. Es ist aber ein Beleg dafür, dass das Projekt „Landeinwärts“ sehr hilfreich ist.

 

MOMO MEDIA: Das ist also keine Ausnahme?

Anett Quint: Nein, wir haben da z.B. jemand in Cottbus, der früher in Berlin gewohnt hat. Der bezog Sozialhilfe, hatte einen Sozialbetreuer, kein Konto mehr, keine Verfügungsgewalt mehr über viele Sachen in seinem Leben. Er war abgestempelt mit psychologischen Gutachten. Der hat es wirklich geschafft über zwei Jahre, dass er da raus ist und jetzt seine zehnte Klasse macht. Dann will er hier bei uns den Bundesfreiwilligendienst machen. Das ist auch ein Erfolg von „Landeinwärts“.

 

MOMO MEDIA: Anscheinend gibt es zu wenig Plätze...

Anett Quint: Ja, und es gibt ein weiteres Problem. Selbst wenn die Jugendhilfe sagen würde, wir gehen da mit und finanzieren einen Aufenthalt bei Euch, dann sind viele Jugendliche schon aus dem Alter raus, wo die Jugendhilfe greift. Es gibt viele, die sind 18, 19 Jahre alt, aber viele sind auch schon 24, 25 bis 30. Da wären wohl die Sozialämter zuständig. Klar wäre es schöner, wenn dieses Projekt hier sich multiplizieren würde. Und wir mehrere solcher Projekte auf dem Dorf hätten.

 

MOMO MEDIA: Wie ist es mit Ausbildung und Beruf auf dem Land?

Anett Quint: Wir waren gerade bei der 3. Straßenkinderkonferenz im Workshop „Schule, Ausbildung, Beruf“ erstaunt darüber, dass oft gar nicht mehr über einen Schulabschluss nachgedacht, sondern gesagt wird, ok, die haben das eben vergeigt. Hier auf dem Dorf findet man Leute, die ausbilden, aber keine Auszubildenden finden. Die dankbar sind, dass es unsere Jugendlichen gibt, und die sagen, die nehmen wir. Und: Die kriegen eine Ausbildung bei uns und haben dann einen Abschluss. Da haben alle etwas davon. Ich glaube im gesamten ländlichen Raum, egal ob im Osten oder im Westen, wird es diese Ausbildungsnischen geben.

 

Unabhängig vom Geld fehlt es aber oft auch an beherztem Personal. Leute, die sagen: „Ich habe einen Blick für Traumata und für Sucht. Sucht steht niemals allein, da gibt es Ursachen dafür. Und ich habe eine ordentliche Portion Mitgefühl. Und ich kann auch umgehen mit Nähe und Distanz. Ich mache mich auch nicht schmutzig damit, wenn ich Nach-Be-Elterung als therapeutisches Konzept sehe und nutze.“ Und die sagen: „Ja, damit kann man Leiden und Traumatisierung heilen.“ Davon gibt es einfach zu wenige.

 

MOMO MEDIA: Hier in Jamlitz wird ja nicht nur Housing first gelebt, sondern es ist auch ein Ort der politischen Bildung... 

Anett Quint: Das war die ursprüngliche Idee im Bahnhof Jamlitz. Es sollte hier eine klassische Bildungsstätte entstehen. Ich komme selbst aus dem interkulturellen Bildungsstättenbereich. Klar war für mich, dass es hier in Richtung Selbstverwaltung geht. Die MOMO’s, diese Interessenvertretung der Straßenkinder, die treffen sich hier so alle zwei Monate völlig unabhängig von Erwachsenen. Die nutzen mich sozusagen nur noch als Medium, um hier Betten zu reservieren... (lacht!)

 

MOMO MEDIA: Viele von ihnen waren vorher hier in Jamlitz bei Euch, bevor sie  MOMO’s wurden...

Anett Quint:  Genau, bzw. umgekehrt. Der Werdegang ist oft so: Jugendliche kommen hier her, nicht nur von KARUNA, sie besuchen hier Seminare. Sie können auch mehrere Seminare besuchen und für sich herausfinden, ob wir als Erwachsene etwas taugen. Ob das wirklich „safe“ ist für sie, wie wir immer so schön sagen, und sich dann für die Sache entscheiden. Das lässt ihnen einfach einen anderen Spielraum als eine Zuweisung in eine Einrichtung. Das ist für viele wichtig, dass sie das austesten können, und dass sie sich nicht als Klienten empfinden müssen. Weil diese Seminare ihnen erst mal einen Zugang zu Bildung verschaffen und sie so in Berührung mit uns kommen. Das löst Vertrauen aus.  

 

Das besonders Schöne an dieser Zielgruppe ist, dass sie politisch ist, politischer als andere Gruppen, die ich je in meinem Beruf erlebt habe. Ich habe viel mit Gymnasiasten im deutsch-polnischen Kontext gearbeitet. Unsere Jugendlichen sind beteiligungshungrig, politisch aufmerksam und voller Tatendrang.

 

MOMO MEDIA: Und jetzt hast Du auch noch die Teilnehmer*innen der Bundeskonferenz der Straßenkinder zu Gast!

Anett Quint: Genau! Das war eine folgerichtige Entscheidung, die Konferenz in Jamlitz zu machen, da sich die MOMO’S ja ohnehin hier immer treffen. Und es ist auch für unsere „Landeinwärts“-Gruppe, die eigentlich wenig Berührung mit den MOMO’s haben, richtig schön zu sehen, was die machen. Habe ich was zu sagen? Will ich was sagen? Und könnte ich vielleicht mitmachen bei MOMO? Ich habe heute mindestens drei Gespräche geführt, mit Jugendlichen, die zu den MOMO’s und zwei, die zu „Landeinwärts“ wollen!

 

MOMO MEDIA: Wie steht die Jamlitzer Bevölkerung zur Akademie für Mitbestimmung?

Anett Quint: In meinem ersten Jahr habe ich alles abgelaufen vom Familienzentrum und der Kirchengemeinde bis hin zur Gemeindevertreterversammlung. Ich habe überall das Projekt vorgestellt. Da gab es eine sehr kritische Haltung. Es gab Fragen wie: Was machen wir denn, wenn die hier alle 14 Tage irgendwo einbrechen oder wenn wir das Spritzbesteck im Garten finden? Ich kam mir damals vor wie auf dem „Heißen Stuhl“!

 

Ich habe gesagt, wir könnten jetzt alle Eventualitäten diskutieren, aber letztlich kann ich nur um einen Vertrauensvorschuss bitten. Genau den verlange ich übrigens auch den Jugendgruppen ab, die zu uns kommen und Angst vor „Dunkel-Deutschland“ haben. Dann gab es so etwas wie friedliche Koexistenz. Es ging für uns darum, den Jamlitzern zu beweisen, dass es eben nicht so ist, wie sie es sich ausgemalt haben. Dabei helfen immer Protagonisten wie der Historiker Andreas Weigelt oder der Künstler Walter Kühne. Die Feuerwehr Jamlitz ist auch ganz wichtig. Also Leute, die sich auch bei uns hier im Bahnhof verwirklichen können.

 

MOMO MEDIA: Ihr habt den alten Bahnhof ja auch sozusagen gerettet...

Anett Quint: Das ist ja das Schöne, der Bahnhof gehört aus der Perspektive der Jamlitzer eben ihnen, den Dorfbewohner*innen. Aber: Wir haben ihn vor dem Verfall gerettet. Dafür waren und sind sie uns sehr dankbar. Aber sie haben eben auch große Lust, hier etwas zu machen. Und wenn es nur ein Kaffeekränzchen ist, das wir anbieten. Die Gedenkveranstaltungen finden alle hier bei uns statt. Die führt Andreas Weigelt zusammen mit unseren Jugendlichen durch. Da treffen sich unsere Jugendlichen mit den Jamlitzern auf Augenhöhe. Die haben einfach etwas zusammen zu tun. Das kann verbinden, und dann sind Herkunft und soziale Stellung egal. Wir machen auch Zukunftswerkstätten, in denen wir planen, was man im Dorf machen kann oder das Dorf hier bei uns. Ich bin manchmal immer noch überrascht, dass es so ist.

 

MOMO MEDIA: Ihr habt Euch also den Respekt der Jamlitzer erarbeitet?

Anett Quint: Der Jamlitzer Bürgermeister hat mal gesagt, dass KARUNA eine Chance ist. Über Jahrzehnte gab es in hier ein Konzentrationslager der Nazis und ein russisches Internierungslager. Und jetzt gibt es hier KARUNA und überhaupt keine Übergriffe im Dorf. Im Gegenteil: Unsere Jugendlichen, die total bindungslos sind und abgekoppelt,  sagen: „Das ist hier mein Zuhause.“ Da sage ich, was will ich mehr!