Kassem aus Essen will MOMO-Mitglied werden!

 

Rund 37.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland leben auf der Straße. Allein in Essen sind es ca. 160 Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben. Kassem (18 Jahre) ist einer von ihnen, er kam mit anderen Jugendlichen aus der „Notschlafstelle 58“ aus Essen vom 9. bis 11. Juni zur 3. Bundeskonferenz der Straßenkinder in die Akademie für Mitbestimmung, dem Justus Delbrück Haus, in Jamlitz. Die MOMO’s sprachen mit ihm.

 

MOMO: Wie bist Du auf der Straße gelandet?

Kassem: Ich bin Deutschland geboren, in Mühlheim an der Ruhr, meine Eltern kommen aus dem Libanon. Es gab früher ganz viel Stress mit dem Jugendamt, weil die mitbekommen haben wie das zuhause bei meinen Eltern läuft, die nicht auf mich aufpassen konnten, weil sie dazu nicht so gut in der Lage waren und auch sehr religiös gewesen sind. Ich bin mit sechs Jahren weg von meinen Eltern und vom Jugendamt von einem Heim zum anderen gebracht worden. Mit elf, zwölf kam ich dann in eine Pflegefamilie in Kleve – so eine sozialpädagogische Lebensgemeinschaft, da lief das ein paar Jahre lang gut, dann nicht irgendwann mehr. Ich habe die ganze Zeit rumgemeckert, weil ich wieder zurück zu meinen Eltern wollte.

 

Dann bin ich zum ersten Mal auf der Straße gelandet, weil ich weder zu meinen Eltern konnte, aber auch nicht dableiben wollte. Da hat das dann auch mit den Drogen – Gras usw. angefangen. Das hat sich dann immer weiter verschlimmert. Ich habe dann so drei, vier Monate lang auf der Straße gelebt, u.a. in Kleve in einer Abrissbude. In einem Autohof habe ich mir dann alte Autoreifen und Fenster geholt, um mir daraus Tische und Stühle usw. zu bauen. Ich bekam dann irgendwann eine Handynachricht, dass ich zurück zu meinen Eltern gehen kann, weil das Jugendamt keinen Bock mehr drauf hatte, dass ich auf der Straße lebe. Dann bin ich auch zu meinen Eltern hin, das lief für ca. ein Jahr gut. Aber wir haben uns nicht mehr so gut vertragen, hatten uns wohl zu sehr auseinandergelebt. Ich kam auch mit ihren religiösen Einstellungen nicht so klar, und die haben mich nicht mehr so akzeptiert wie ich war. Es gab nur noch Stress.

 

Dann bin ich wieder auf der Straße gelandet. Das ging wieder vier, fünf Monate lang,  ich habe dann in Notschlafstellen geschlafen. Mit ungefähr16 Jahren bin ich nach Essen gekommen, weil das in den Notschlafstellen am Niederrhein für mich nicht mehr ging. Ich habe da in der Einrichtung „Raum 58“ geschlafen für drei, vier Monate bis ich dann den Vorschlag bekam, in eine Wohnung zu ziehen.

 

Hast Du einen Schulabschluss?

Nein, wie soll das denn gehen?! Die Schule habe ich früh abgebrochen, weil ich das nicht mehr geschafft habe, weil ich eben auf der Straße leben musste. Ich konnte lange Zeit einfach nicht mehr, ich habe eine Pause gebraucht, habe mich ausgeschaltet. Nach einer Weile habe ich mich dann wieder gefangen. Mit 18 hat mich dann das Jobcenter übernommen. Ich habe eine Maßnahme als Maler und Lackierer angefangen, das lief eigentlich ganz gut, bis ich dann für einen Monat in den Jugendarrest musste.

 

Warum bist Du hier zur Bundeskonferenz der Straßenkinder in Jamlitz?

Ich wollte eigentlich schon zur 2. Bundeskonferenz mitkommen, habe das 2015 aber noch nicht geschafft. Jetzt bin ich hier, weil ich ja selbst lange auf der Straße gelebt habe, und nun möchte ich gern andere Jugendliche unterstützen. Ich will ihnen berichten, wie es mir ergangen ist. Ich würde sie gern inspirieren, wie sie es vielleicht besser machen können als ich.   

 

Du bist zur Eröffnung ganz spontan ans Mikrofon gegangen und hast eine Rede gehalten, das war gar nicht geplant...

Na ja, ich hatte mir das schon überlegt, und unterwegs habe ich den Text dann aufgeschrieben. Ich habe mich total darauf gefreut, war aber auch sehr nervös. Als ich da oben vorm Mikrofon stand, war ich voll am Zittern. Das war wirklich...

 

In welchem Workshop hast Du mitgearbeitet?

Ich war in der Gruppe, die sich mit Kriminalität beschäftigt hat, weil ich früher selbst ja sehr kriminell war. Wenn man auf der Straße lebt, hat man meist einfach keine andere Wahl. Wenn man etwas zu Essen braucht, muss man meist Klauen gehen. Wenn man Drogen konsumiert, seine Sucht finanzieren will, dann muss man Klauen gehen und das Zeug dann weiterverkaufen. Deshalb habe ich mich sehr für dieses Thema interessiert. Na ja – ich habe eben so meine Erfahrungen gemacht damit und wollte den anderen darüber erzählen, damit man was dagegen tun kann.

 

Und wie lief der Workshop für Dich so?

Es war auf jeden Fall sehr interessant. Die Gruppe war sehr dynamisch und wir kamen auf jeden Fall sehr gut miteinander klar. Wir haben uns gegenseitig die Meinung gesagt, haben darüber diskutiert, wie das so läuft im Alltag und was man besser machen kann. Ich fand das super!

 

Die Idee dieser Konferenz war, statt Forderungen an die Politik zu stellen, eigene Vorschläge zu machen. Habt Ihr in Deiner Projektgruppe was gefunden?

Wir haben einige Vorschläge gesammelt. Ausgangspunkt für uns ist dabei immer, wie bestimmte Delikte verhindert werden können, die im schlechtesten Fall mit Gefängnis enden. Da wäre z.B. der Mittellosenausweis, um Schwarzfahren zu verhindern. Bei drohenden Platzverweisen sollte es einen „Save Place“ für obdachlose Jugendliche geben, gern auch Tiny Houses oder Containerhäuser nach dem Prinzip Housing First. Bei Diebstählen aus der Not heraus wäre eine bedingungslose Grundsicherung  denkbar beispielsweise in Form einer Bezahlkarte, mit der keine Genussmittel wie Alkohol oder Tabak gekauft werden können. Jugendliche im Gefängnis brauchen mehr Sozialarbeiter, die sie auch danach weiter begleiten. Nach dem Knast sollten Jugendliche bedingungslos einen Anspruch auf einen Platz in Betreuungswohnungen/Jugendhilfeeinrichtungen etc. haben (sechs bis zwölf Monate plus einer möglichen Verlängerung, um nicht vom Gefängnis direkt wieder auf der Straße zu landen.

 

Du willst nach Jamlitz kommen und Dich den MOMO’s anschließen?

Ja, das stimmt. Ich habe angefragt, ob ich den MOMO’s nicht helfen kann. Ich habe mich auch von der Einrichtungsleiterin hier in der Akademie für Mitbestimmung schon mal informieren lassen, wie das abläuft. Anfangs will ich erst mal zu den Arbeitstreffen der MOMO’s herkommen, um ein bisschen reinzuschauen und zu helfen. Vielleicht komme ich auch für länger her zum Housing First-Projekt „Landeinwärts“, aber da überlege ich noch, bin mir noch nicht sicher. Hier kann man zur Ruhe kommen und trifft auf Leute, die ähnliche Erfahrungen haben wie man selbst und kann sich gut austauschen.

 

Wie geht es nach der Konferenz für Dich weiter?

Ich will jetzt eigentlich meine Maßnahme als Maler und Lackierer vom Jobcenter weitermachen, die ich ja zwangsweise abbrechen musste. Da warte ich allerdings noch auf die Zusage vom Jobcenter. Ich hoffe sehr, das und dass ich die normale Tagesstruktur wie vorher dann wieder habe. Die haben mir gesagt, wenn ich das jetzt sechs Monate durchziehe, dann kann ich eventuell einen außerbetriebliche Ausbildung machen und nebenbei noch einen Schulabschluss. Das wäre perfekt für mich. Wenn das nicht funktioniert, dann muss ich etwas anderes ausprobieren.

 

Wovon träumst Du?

Ich würde echt sehr gern in einer ruhigen Gegend leben, wo wirklich nicht so viel Scheiße passiert. Eine Freundin natürlich. Dann vielleicht irgendwann auch mal ein eigenes Kind. Das wäre wirklich schön, ein Kind zu haben und es groß zu ziehen.